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Aufarbeitungskommission veröffentlicht Studie zu sexuellem Kindesmissbrauch in der Familie

Die Familie genießt als privater Raum einen besonderen gesetzlichen Schutz. Für Kinder und Jugendliche, die sexuelle Gewalt in der Familie erleben, kann dieser Schutz zum Verhängnis werden. Die Ergebnisse einer gerade veröffentlichten Studie zeigen neben dem Spezifischen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Familie auch die Verantwortung unserer Gesellschaft für Hilfe und Aufarbeitung in diesem Tatkontext auf.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat eine Studie zu sexueller Gewalt in der Familie. Sie ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes von Wissenschaftlerinnen der Goethe-Universität Frankfurt am Main zur gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses Tatkontextes. Grundlage der Studie waren vertrauliche Anhörungen und schriftliche Berichte von Betroffenen, Angehörigen sowie weiteren Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der Kommission aus dem Kontext Familie vorlagen. Für die Studie wurden insgesamt 870 vertrauliche Anhörungen und schriftliche Berichte mit quantitativen und qualitativen Methoden ausgewertet.

Ein zentrales Merkmal von Familie als Tatkontext ist die Möglichkeit der Täter oder Täterinnen sowie anderer Beteiligter, sich nach außen abzuschotten, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten und so einem betroffenen Kind alle Auswege aus der Gewalt zu versperren. Ein wesentlicher Unterschied zu anderen Tatkontexten ist, dass Kinder ihre Familie meist nicht einfach verlassen können wie z.B. eine Schule oder einen Sportverein. Kinder bleiben der sexuellen Gewalt in der Familie somit oft über einen langen Zeitraum ausgeliefert.

Einige zentrale Ergebnisse:
Unter den damaligen Kindern und Jugendlichen waren alle Altersgruppen betroffen. Bei fast der Hälfte der Betroffenen begann der Missbrauch bereits vor dem sechsten Lebensjahr. Das heißt, in Familien sind gerade die jüngsten Kinder besonders betroffen. Es zeigt sich folgendes Muster: Wenn die Gewalt im jungen Alter begann, dauerte sie oft viele Jahre an.

Mit Abstand am häufigsten wurde von Tätern und Täterinnen unter den Eltern berichtet (44 Prozent). Die insgesamt größte Tätergruppe waren Väter mit 36 Prozent. Mütter sind mit rund 8 Prozent als Täterinnen dokumentiert. Zieht man Pflege- und Stiefeltern hinzu, machten Väter fast die Hälfte (48 Prozent) und Mütter 10 Prozent der Tätergruppe aus. Außerdem wurden als Täter und Täterinnen Groß- und Stiefonkel, Brüder, Großväter, andere männliche Verwandte, Stiefgroßväter, Stiefbrüder und Tanten genannt. Viele Betroffene erlebten Gewalt durch mehr als einen Täter oder eine Täterin innerhalb oder außerhalb der Familie. Teilweise wussten diese voneinander, sprachen sich ab oder planten und organisierten die sexualisierte Gewalt zusammen.

Unter den Personen, denen sich Kinder und Jugendliche anvertraut haben, waren vielfach Familienangehörige, insbesondere Mütter. Doch nur in wenigen Fällen wurde die Gewalt durch Dritte beendet. Meist endete die Gewalt ohne ersichtlichen Grund. Kinder und Jugendliche haben zudem immer wieder versucht, der sexuellen Gewalt zu entkommen. Sie schildern verschiedene "Strategien", die die Abhängigkeit, das Ausgeliefertsein und die Hilflosigkeit von Kindern und Jugendlichen besonders drastisch aufzeigen. Manche Betroffene erzählen von ihren Suizidgedanken, viele sind von zu Hause weggelaufen.

Schlussfolgerungen
Die Aufklärung von Fällen und Aufarbeitung des Tatkontextes Familie steht vor besonderen Herausforderungen. Betroffene Kinder und Jugendliche sind hier auf ein aufmerksames und handelndes Umfeld angewiesen. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass das hohe Gut der Privatsphäre nicht dazu führt, dass sie selbst schutzlos sind.

Die Analyse der Betroffenenberichte zeigt auf, dass Kinder und Jugendliche Signale gesendet und versucht haben, sich jemandem anzuvertrauen. Vertrauenspersonen in der Familie wie zum Beispiel Mütter benötigen ihrerseits gute Unterstützung und Beratung, um ihr Kind schützen zu können. Und Vertrauenspersonen außerhalb der Familie in der Schule oder einem Verein müssen wissen, wie sie helfen können.

Die Studie verdeutlicht, welche weiteren Aufarbeitungsschritte nötig sind. So ist auf der Basis von Betroffenenberichten zu klären, wie Jugendämter agiert haben und ob und wie Hilfe wirkungsvoll war. Hierzu hat die Kommission jüngst eine Fallstudie in Auftrag gegeben.

Betroffene fordern, dass neben der gesellschaftlichen Aufarbeitung auch in der einzelnen Familie selbst aufgearbeitet werden muss. Auch hierfür benötigen Familien fachliche Beratung und Unterstützung. Diese ist für Angehörige bisher kaum verfügbar.

Hintergrund der Studie
Die Studie "Sexuelle Gewalt in der Familie. Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart" ist das Ergebnis eines intensiven fünfjährigen Forschungsprojektes und begleitend entstanden zur Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Der Studie liegt die Auswertung von Anhörungen und schriftlichen Berichten der Kommission zugrunde. Finanziert wurde die Studie aus Forschungsmitteln der Kommission. Das Forschungsprojekt wurde von Wissenschaftlerinnen der Goethe-Universität Frankfurt am Main durchgeführt: Prof. Dr. Sabine Andresen, Marie Demant, Anna Galliker und Luzia Rott.

Prof. Dr. Sabine Andresen, Marie Demant, Anna Galliker, Luzia Rott / Unab­­hängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmiss­brauchs (Hrsg.):
Sexuelle Gewalt in der Familie. Gesellschaftliche Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von 1945 bis in die Gegenwart
Berlin 2021
156 Seiten
Download auf www.aufarbeitungskommission.de

Quelle und weitere Informationen:
Presse­mitteilung der Unab­hängigen Kom­mis­sion zur Aufarbeitung sexuellen Kindes­missbrauchs, 07.09.2021

Betroffene sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die der Kommission über sexuellen Kindesmissbrauch berichten möchten, können sich telefonisch (0800 / 4030040 – anonym und kostenfrei), per E-Mail oder Brief an die Kommission wenden. Weitere Informationen zur vertraulichen Anhörung – auch online per Video – und zum schriftlichen Bericht sowie alle Kontaktdaten unter www.aufarbeitungskommission.de.