Mehr als 55.000 Fälle von Kindeswohlgefährdung durch Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung, meldeten die deutschen Jugendämter im Jahr 2019 laut Statistischem Bundesamt. Vorausgegangen war eine Prüfung von 173.000 Verdachtsfällen. Doch inwiefern sind Kinder und Jugendliche an sie selbst betreffenden Verfahren und Entscheidungsprozessen beteiligt, wenn es um die Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung geht? Zu diesem sensiblen und komplexen Thema liegen nun aktuelle wissenschaftliche Analysen vor, die im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts HESTIA (Policies and responses with regard to child abuse and neglect in England, Germany and the Netherlands: a comparative multi-site study, gefördert im NORFACE Welfare States Future Progamm) erhoben wurden. Forscherinnen und Forscher aus dem Deutschen Jugendinstitut (DJI), der Universität Groningen und der Universität York werteten gemeinsam mit Jugendämtern in den jeweiligen Ländern Fallakten zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung aus. Das Ergebnis: Obwohl die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, England und den Niederlanden gesetzlich verankert ist, ergab die Untersuchung von Fallakten eine erstaunlich niedrige Beteiligungsrate.
Partizipation ist rechtlich
verbindlich
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben den deutschen Kinderschutz
untersucht und mit der Praxis des Kinderschutzes in England und den
Niederlanden verglichen. Die Ausgangsbasis der Analyse: Kinder und Jugendliche
haben gemäß der UN-Kinderrechtskonvention ein Recht auf Beteiligung an allen
Entscheidungen, die sie betreffen. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf
Entscheidungen, die ihrem Schutz vor Gewalt dienen. Eine Beteiligung ist nicht
nur das Recht von Kindern und Jugendlichen, sondern hat auch positive
Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden, ihr Sicherheitsgefühl und trägt zum Erfolg
von Kinderschutzinterventionen bei. "Die Partizipation von Kindern und
Jugendlichen stellt Fachkräfte jedoch vermutlich vor große Herausforderungen,
so dass unklar ist, wie der Rechtsanspruch in der Praxis des Kinderschutzes
umgesetzt werden kann," erklärt Dr. Susanne Witte, wissenschaftliche Referentin
am DJI.
In ihrem Beitrag in der Publikation "Decision-Making and Judgment in Child Welfare and Protection: Theory, Research, and Practice" zum Vergleich der rechtlichen Rahmenbedingungen und der Praxis in den drei Ländern stellen die Wissenschaftlerinnen Susanne Witte, Mónica López López (Universität Groningen) und Helen Baldwin (Universität York) die Ergebnisse der Studie vor. Sie werteten insgesamt 1.207 Fallakten zu Verfahren einer Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung mit einem standardisierten Vorgehen aus, davon 400 aus England, 409 aus Deutschland und 398 aus den Niederlanden. Auf Basis dieser Aktenlage erfassten sie eine Vielzahl an Fallmerkmalen und das durch die Fachkräfte dokumentierte Vorgehen. Hierzu gehört auch die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an der Entscheidung am Ende des Verfahrens zur Abklärung einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Als Beteiligung wurde gewertet, wenn Kinder und Jugendliche entweder nach ihren Wünschen im Hinblick der Entscheidung gefragt wurden, zwischen unterschiedlichen Hilfsmaßnahmen wählen durften oder an Hilfeplankonferenzen beteiligt wurden. Hierbei spiegeln die erhobenen Daten vermutlich nur einen Teil der Wirklichkeit wieder und können keine Aussage darüber treffen, ob die Kinder und Jugendlichen das Vorgehen als Beteiligung an der Entscheidung erlebt haben.
Geringe Beteiligung von Kindern und
Jugendlichen bei Entscheidungen
Deutschland steht hier mit einer Beteiligung von Kindern in rund 22 Prozent der
Fälle zwar besser da als England mit 13 Prozent und die Niederlande mit 8
Prozent, dennoch wurde in den Jahren 2014 und 2015 auch hierzulande nur jedes
fünfte Kind an Entscheidungen beteiligt. Ältere Kinder werden im Vergleich zu
jüngeren eher mit in die Entscheidungsprozesse einbezogen, dennoch bleibt ein
großer Anteil an Fällen, in denen trotz höheren Alters keine Beteiligung in den
Akten dokumentiert ist. So wurden in Deutschland 43 Prozent der 15- bis
18-Jährigen an einer sie betreffenden Entscheidung nicht beteiligt, in den
Niederlanden waren es 68 Prozent und in England 71 Prozent. Eine der
wichtigsten Voraussetzungen für die Partizipation in allen drei Ländern war die
Beteiligung der Eltern: Kinder wurden nur dann in die Entscheidungsfindung
einbezogen, wenn Vater oder Mutter einbezogen wurde, nicht aber umgekehrt.
Es gab auch Unterschiede zwischen den Ländern. Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen steht in Deutschland und den Niederlanden im Zusammenhang mit Entscheidungen am Ende des Verfahrens: In den Niederlanden ging eine Beteiligung mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einher, dass Kinder und Jugendliche als gefährdet eingeschätzt wurden. In Deutschland wurden bei einer Beteiligung von Kindern und Jugendlichen häufiger familienbezogene Hilfen geplant. In beiden Ländern gab es einen Zusammenhang zwischen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit, dass individuelle Hilfsangebote für Kinder und Jugendliche geplant wurden. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich Fachkräfte stärker auf die Bedürfnisse der Kinder konzentrieren, wenn sie diese in den Entscheidungsprozess einbeziehen. Die Daten lassen jedoch keine kausalen Schlussfolgerungen zu.
Fachkräfte benötigen mehr Ressourcen
"Die Ergebnisse der Studie verweisen auf eine unzureichende Beteiligung von
Kindern und Jugendlichen in Entscheidungen zur Einschätzung einer
Kindeswohlgefährdung. Diese steht in allen drei Ländern nicht im Einklang mit
den rechtlichen Vorgaben", sagt Dr. Susanne Witte und betont, dass weitere
Forschung notwendig sei, um Beteiligung von Kindern und Jugendlichen aus deren
Sicht zu beleuchten sowie mehr zu den positiven wie negativen Folgen von
Beteiligung zu erfahren. Ein wichtiger Blickwinkel für zukünftige Forschung sei
auch, in welcher Weise institutionelle Rahmenbedingungen es Fachkräften
ermöglichen Kinder und Jugendliche zu beteiligen. Susanne Witte ergänzt: "Denn
hierzu benötigen sie Wissen und Kompetenzen, vor allem aber auch die nötige
Zeit. Nur dann können sie die große Herausforderung in dem Spannungsfeld
meistern: Beteiligung der Kinder und Jugendlichen ermöglichen, gleichzeitig
deren Überforderung vermeiden."
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