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Gegen sexualisierte Gewalt an Kindern: LKA Niedersachsen initiiert Fachsymposium für umfassenden Kinderschutz

Niedersachsen bündelt seine Kräfte im Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern: Auf Einladung des Landeskriminalamts (LKA) Niedersachsen haben sich am 16. Mai 2023 rund 150 Expertinnen und Experten aus verschiedenen Verant­wortungs­bereichen zusammengefunden, um sich auszutauschen sowie die Arbeit an den Schnittstellen zu intensivieren. Grundlage hierfür bildet der Abschlussbericht der niedersächsischen Enquetekommission zur Verbesserung des Kinderschutzes und zur Verhin­derung von Missbrauch und sexueller Gewalt an Kindern.

Die Niedersächsische Ministerin für Inneres und Sport, Daniela Behrens, sagt: "Der Schutz von Kindern und Jugendlichen muss für jede und jeden von uns oberste Priorität haben! Kinder und Jugendliche haben das Recht in Frieden aufzuwachsen und vor Gewalt geschützt zu werden. Dieses Recht gilt es zu wahren und zu verteidigen. Aus diesem Grund haben wir uns in der Landesregierung darauf verständigt, einen interministeriellen Arbeitskreis 'Kinderschutz' einzurichten. Dieser soll zeitnah eine Kinderschutzstrategie für Niedersachsen und Vorschläge für ein Kinderschutzgesetz entwickeln. Das ist sicher ambitioniert, aber mir persönlich ist eines wichtig: bei diesem Thema dürfen wir keine halben Sachen machen!"

"Das Kindeswohl sicherzustellen und einen umfassenden Kinderschutz auf allen Ebenen zu gewährleisten, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagt LKA-Präsident Friedo de Vries ergänzend. "Hierfür ist eine aufeinander abgestimmte Zusammenarbeit verschiedenster Akteure erforderlich. Mit dem Symposium möchten wir die interdisziplinäre und institutionsübergreifende Vernetzung fördern und damit zur Verhinderung sexualisierter Gewalt an Kindern beitragen."

Die Polizei Niedersachsen verzeichnet in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) seit 2016 steigende Fallzahlen beim sexuellen Missbrauch von Kindern. Zuletzt stiegen sie auf 1.815 Fälle im Jahr 2022 – dem höchsten Wert der vergangenen zehn Jahre. Dabei un­berück­sichtigt bleibt die hohe Dunkel­ziffer. Expertinnen und Experten schätzen, dass mehr als 90 Prozent der Taten nicht polizei­lich bekannt werden. So geht die Welt­gesund­heits­organisation (WHO) davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexualisierte Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren – das wären rechnerisch rund ein bis zwei Kinder pro Schulklasse.

Die niedersächsische Polizei hat im Kampf gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen bereits Maßnahmen getroffen: Der Ermittlungs­bereich wurde personell gestärkt, die technische Aus­stattung wird fortwährend verbessert. Nicht zuletzt auch, weil allein im vergangenen Jahr die US-amerikanische Organisation National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) 3.600 Verdachts­fälle kinder­­porno­­grafischen Materials, veröffentlicht aus Niedersachsen auf US-Platt­for­men, über das Bundeskriminalamt an das LKA Niedersachsen gemeldet hat.

"Sexualisierte Gewalt an Minderjährigen ist eine schreckliche Straftat. Betroffene leiden oft ihr Leben lang. Deshalb setze ich mich dafür ein, dass die Täterinnen und Täter konsequent ermittelt und einem Strafverfahren zugeführt werden. Klar ist aber auch: Das geht nicht ohne Ausstattung und personelle Ressourcen in der Polizei. Gleichzeitig ist es mir wichtig, gesamtgesellschaftlich zu sensibilisieren. Kinderschutz geht uns alle an", sagt de Vries.

Bei dem Symposium vertreten waren deshalb nicht nur Vertreterinnen und Vertreter aus Polizei­behörden und Staats­­anwalt­schaften, sondern u. a. auch Kerstin Claus, Unabhänigige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Vertreter und Vertreterinnen aus verschiedenen niedersäch­si­schen Ministerien, den Bereichen Opferschutz und Prävention, dem Landes­jugend­amt (Regionales Landes­amt für Schule und Bildung Hannover), dem Landes­sportbund, dem Verbund der nieder­säch­si­schen Frauen- und Mädchen­beratungs­stellen gegen Gewalt e.V. und der Landes­auf­nahme­behörde.

Missbrauchsbeauftragte: mehr Datenerhebungen und wissenschaftliche Dunkelfeldforschung
In ihrem Vortrag äußerte sich Kerstin Claus zum Ausmaß von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugend­liche und der Bedeutung der Polizeilichen Kriminalstatistik. "Wir alle wissen, dass die Aussage­kraft dieser Zahlen zum tatsächlichen Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugend­liche nur sehr gering und das Dunkelfeld in diesem Bereich weitaus größer ist", so Kerstin Claus. "Gute Politik, gute Polizeiarbeit und ein guter Kinder- und Jugendschutz – sie alle brauchen verlässliche Daten", so Claus weiter. Die Missbrauchs­beauftragte plädierte deshalb neben der qualifizierten Erhebung von Hellfelddaten zusätzlich für eine wissenschaftliche Dunkelfeldforschung. Hierfür brauche es regel­mäßige Befragungen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, um das aktuelle Geschehen zu monitoren. Dafür solle ein Zentrum für Prävalenzforschung aufgebaut werden, unter Beteiligung von Wissenschaft, Fachpraxis und Betroffenen. Sie forderte zudem, die Hellfeld­zahlen neben der PKS um Zahlen aus der Justiz, dem Gesundheitsbereich oder der Kinder- und Jugendhilfe zu erweitern, um auch im Bereich des Hellfeldes ein besseres Gesamtbild zu erhalten.

Claus stelle in ihrem Vortrag auch die gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus dem Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen entwickelten Leitfäden für eine kind­ge­rechte Justiz im Strafrecht und im Familienrecht vor. Es gehe darum, so Claus, die Belastungen, denen Kinder und Jugendliche im Verfahren ausgesetzt sind, zu reduzieren. Im nächsten Schritt brauche es eine bundesweit flächendeckende Evaluation der Opferrechte, um die Verfahren betroffenengerechter zu gestalten, zum Beispiel durch eine psychosoziale Prozess­begleitung oder die richterliche Video­vernehmung. Auch hier fehlten konkrete und vor allem vergleichbare Zahlen. Was es zudem zukünftig in allen Bundesländern brauche, seien verpflichtende Schutzkonzepte für alle Institutionen, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten, sowie die Einrichtung von Landes­betroffenen­räten, eine bundes­weite Evaluation zur kindgerechten Justiz sowie ein stärkeres politisches Engagement im Bereich der Aufarbeitung.